In vielen Ländern gibt es Millionen Kinder, die genauso viel, manche sogar noch mehr arbeiten müssen als Erwachsene. Stell dir vor, in Pakistan werden Kinder mit fünf, ja, manche sogar bereits mit drei Jahren von ihren Eltern in die Hände eines Teppichfabrikanten oder Ziegeleibesitzers gegeben, bei dem sie zehn, zwölf, vierzehn oder noch mehr Stunden am Tag arbeiten.
Iqbal war eines dieser Kinder. Iqbal Masih wuchs auf in Murtike in Pakistan. Seine Familie war arm wie die meisten in der Gegend. Als Iqbal vier Jahre alt war, sollte sein ältester Bruder heiraten und selbst eine Familie gründen.
Jede pakistanische Familie möchte für ihren ältesten Sohn eine große Hochzeitsfeier ausrichten, so ist es dort üblich. Doch eine große Feier kostet viel Geld, Geld, das eine arme Familie nicht besitzt. Iqbals Vater überlegte, wie er die große Summe für die Hochzeit zusammenbekommen könnte.
Iqbals Vater fand einen reichen Herren - er ist der Besitzer einer Teppichweberei - , der bereit war, ihm das Geld für die Hochzeit zu leihen.
"Gut", sagte der Teppichfabrikant, "du kannst das Geld haben. Aber nur unter einer Bedingung: Ich will, dass du das Geld zurückzahlst, und zwar sollst du gleich damit anfangen! Am besten, du schickst mir eines deiner Kinder, es kann bei mir arbeiten und so den Kredit abbezahlen."
Iqbals Vater zögerte kurz. "Einverstanden", sagte er nach einer Weile, "für das Geld, das du mir gegeben hast, überlasse ich dir meinen kleinen Iqbal. Von jetzt an wird er in deiner Werkstatt arbeiten und Teppiche knüpfen und du wirst für ihn sorgen."
"Ja, so soll es sein", antwortete der Teppichfabrikant, "Iqbal soll bei mir arbeiten und mich ja nicht enttäuschen. Ich hoffe, er ist ein fleißiger und folgsamer Junge."
Wenige Tage später wurde Iqbal von dem Teppichfabrikanten abgeholt.
"Iqbal," sagte der Teppichfabrikant, "pass gut auf! Von jetzt an gehörst du zu mir. Du tust, was ich dir sage, und wehe, du bist nicht folgsam und arbeitest nicht fleißig. Frag´ die anderen Kinder, sie werden dir schon berichten, wie ich mit unfolgsamen Kindern umgehe."
Tatsächlich, in der Werkstatt saßen dicht gedrängt viele Mädchen und Jungen, die meisten kaum älter als er selbst, und knüpften Teppiche. Einige waren sogar angekettet.
Iqbal bekam einen Platz zugewiesen. Der Teppichfabrikant ließ einen Meister kommen, der Iqbal zeigte, wie man Teppiche knüpft. Nach einigen Tagen war Iqbal bereits sehr geschickt und arbeitete flink. Doch dann schmerzte ihn sein Rücken immer mehr, er war müde und hungrig und wollte zurück zu seiner Familie.
"Was, du willst nach Hause?" fährt ihn der Teppichfabrikant an, "sieh nur zu, dass du ordentlich arbeitest, schließlich habe ich deinem Vater eine Menge Geld geliehen, das will ich wiederbekommen! Los, an die Arbeit!"
So kam es, dass Iqbal sechs Tage in der Woche zwölf Stunden am Tag arbeiten musste. Iqbal war sehr bedrückt. Was sollte er tun? Er konnte nicht fliehen, er war angekettet. Auch den anderen Kindern in der Werkstatt ging es schlecht, sie hungerten, hatten wenig anzuziehen und wurden immer wieder geschlagen.
So verging Jahr um Jahr, bis eines Tages - Iqbal war nun schon zehn Jahre alt - ein Gerücht in die Werkstatt des Teppichfabrikanten drangt. Es sollen Leute in der Gegend unterwegs sein, so heißte es, die Kindern helfen, von ihren Arbeitsstätten zu fliehen. Im übrigen soll es verboten sein, Kinder von ihrer Familie fernzuhalten, zur Arbeit zu zwingen und zu schlagen...
Iqbal beschließt zu fliehen.
Eines Abends in einem unbemerkten Augenblick streifte er seine Fesseln ab und entkam. Er traf einen Vertreter des BLLF, der Organisation, die die arbeitenden Kinder befreit. Mitarbeiter des BLLF brachten ihn in Sicherheit und kümmerten sich um ihn.
Doch auch nach seiner Befreiung - Iqbal ging jetzt zur Schule - konnte er das Leiden der anderen Kinder nicht vergessen. Im Auftrag des BLLF reiste Iqbal in den folgenden Jahren um die ganze Welt und berichtete vor vielen Zuhörern, wie es den arbeitenden Kindern in Pakistan geht. Als er zwölf Jahre alt war, hatte er zusammen mit dem BLLF bereits 3000 Kinder aus der Gewalt ihrer Arbeitgeber befreit.
In Zeitungen, im Radio und im Fernsehen wurde über Iqbal berichtet. Während Iqbal für die Befreiung der Kinder kämpfte, wurden immer mehr Menschen auf die Lebens- und Arbeitssituation der Kinder in den Teppichfabriken in Pakistan aufmerksam. Und viele, die gerne einen Teppich gekauft hätten, fingen an zu überlegen:
"Wenn diesen Teppich vielleicht ein Kind geknüpft hat, möchte ich ihn lieber nicht kaufen."
Im April 1995 besuchte Iqbal seine Verwandten und Freunde in Pakistan. Eines Nachmittags, es war der 16. April, war Iqbal mit seinen Freunden auf dem Fahrrad unterwegs. Plötzlich knallte es, Iqbal verspürte einen kurzen, heftigen und sehr schmerzhaften Stich, Blut spritzte und er fiel leblos vom Rad.
Iqbal war auf offener Straße erschossen worden. Bis heute weiß man nicht, wer die Täter waren; viele, darunter auch Ehsan Ullah Khan, der Vorsitzende des BLLF, vermuten einen Anschlag der einflussreichen "Teppich-Mafia".
Iqbals Tod war ein großer Verlust für alle, die für die Rechte der Kinder kämpfen. Doch als nach seinem Tod überall auf der Welt Zeitungen und Fernsehsender über Iqbal berichteten, wurde sein Lebenswerk überall bekannt. Inzwischen setzen sich mehr Menschen als je zuvor gegen die Kinderarbeit ein. So hat z.B. eine Schule in den USA 143.200 Dollar gesammelt und eine Stiftung gegründet, die in Kasur, Pakistan, eine Schule für 278 der ärmsten Kinder der Gegend unterhält.
Ehsan Ullah Khan, der in Schweden im Exil lebt, hat eine Spendenaktion für das "Iqbal Masih Freedom Centre" ins Leben gerufen; in der schwedischen Stadt Lidköping feiern Kinder und Jugendliche jedes Jahr den 16. April als "Iqbal Day".